
Meinem Text werde ich eine kleine Anekdote voranstellen, die vielleicht auch als Rechtfertigung dafür dienen kann, dass der anschließende Text etwas wirr klingt: Kürzlich warf ich am Morgen einen Blick auf die Cornflakes-Packung und fragte mich wie das abgebildete Tier heißt. Die Weibchen nennt man Henne, aber auf der Packung war ein Männchen. Ich wühlte in meinem geistigen Vokabelbuch, doch da wo eigentlich der gesuchte Begriff sein sollte, hatte jemand den Radiergummi angesetzt und alles verschwinden lassen. Ich sah aus dem Fenster und dachte sehr, sehr angestrengt nach. Das konnte doch nicht wahr sein, das ist doch ein Wort, welches fest in meinem Kopf verankert sein müsste. Kein Fremdwort, dass mit Bleistift eingetragen wurde, sondern eines, das mit wasserfester Farbe in mein Hirn gedruckt sein müsste.
Ich versuchte es über Assoziationen: Das Tier kräht, so viel wusste ich. Eine Krähe? Quatsch. Das Tier macht: „Kikeriki“. Ein Krähe macht doch nicht „Kikeriki“. Es gibt ein Sprichwort mit diesem Tier: „Kräht der ??? auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt wie es ist.“ Aber wie, verdammt noch mal, heißt das blöde Vieh auf dem Mist.
In der Ferne vorm Fenster gibt es eine Baustelle und dann fiel mir ein Wort ein: „Kran“. Ja, Kran, so heißt das Tier. Nein. Doch nicht. Ein „Kran“ ist irgendetwas anderes, aber was? Langsam bekam ich Angst. Wo waren all die Worte hin? Und was zum Teufel machte der „Kran“ in meinem Kopf? Dann sah ich bewusster aus dem Fenster und nahm den Baukran wahr. Aha. Ja, daher kam das Wort. Gut. Aber wie heißt nun dieses verflixte Tier auf der Cornflakes-Packung?
Ich habe es nicht geschafft, den Begriff wiederzufinden, deshalb machte ich – na, was wohl? Ich fragte Google. HAHN – na klar. Manno. Ich googelte dann gleich weiter: „Früh einsetzende Demenz“. Vermutlich bin ich nicht dement, sondern einfach nur übermüdet. Im Schlaf werden Dinge abgespeichert und das Hirn regeneriert sich. Bei fehlendem Schlaf wird das Abrufen von Informationen erschwert.Ich bin ohnehin ein zerstreuter Mensch, aber seit mein Sohn da ist, muss ich mir alles ins Handy einspeichern, sonst vergesse ich es.
So viel also vorab. Und nun zum eigentlichen Thema:
Ich versuche es zum wiederholten Mal. Ich will über Familienmodelle schreiben über Patchwork-Familien insbesondere. Anlauf genommen habe ich bereits unzählige Male, aber es will einfach kein gelungener Text daraus werden. Es gibt zu viele Einerseits und Andererseits. Egal bei welchem Gedanken ich beginne, ich lande immer wieder in einem Labyrinth von Möglichkeiten und Meinungen voller Sackgassen und Kreisverkehren.
Weshalb fällt es mir so schwer, diesen Text zu schreiben? Weil auch ich, obwohl ich auf meinem Blog viel über mich und meine Familie preisgebe, meine Privatsphäre habe, weil auch ich Geheimnisse habe, Gedanken, die ich mir selbst nicht erlaube und ich habe ein Image von der lockeren Mutti, die unkonventionell und etwas verpeilt, aber durchaus funktionierend durch die Elternschaft stolpert. Dieses Image will ich nicht mit drei Sätzen zum Einsturz bringen. Wenn es um Patchwork-Familien geht, kann man außerdem schnell Menschen auf den Schlips treten. Schnell fühlen sich alleinerziehende Mütter angegriffen oder unverstanden, Väter ihrer Rechte und Bedürfnisse beraubt oder Großeltern missachtet. Letztlich habe ich mir selbst noch keine endgültige Meinung zum Thema Patchwork gebildet. All das macht es mir sehr schwer, einen gelungenen Text zu schreiben.
Es ist seltsam: In Filmen, in Fernsehserien, in den Medien wird das Patchwork-Modell heute häufig so dargestellt, als könne man Familien beliebig oft auseinandernehmen und neu zusammensetzen. Brüche in den Familiengeschichten können einfach geflickt werden und nach Trennungen kommen irgendwann neue Menschen zur Familienkonstellation hinzu und bereichern das gemeinsame Leben. Es ist das reinste Patchwork-Harmonie-Seifenoper-Gedudel. Herz-Schmerz, Trennung, neue Liebe und mittendrin drei Kinder. Bloß nicht die romantische Liebe aufgeben oder das Feuer der Leidenschaft gegen die Langeweile eines Beziehungsalltags tauschen.
Es wird so getan, als wäre es eine super Sache für die Kinder, wenn sie plötzlich zwei Mamas, zwei Papas und einen Sack voll Großeltern haben. Da können sie ja überall das Beste abgreifen, und jeder Mensch, der das Kind zusätzlich liebt und ihm Imput gibt, ist ein Glücksfall. Doch die Kinder haben sich das so nicht ausgesucht. Sie werden damit einfach konfrontiert.
Und nun geht es schon los: Wenn man über die Kinder nachdenkt, deren Eltern kein Paar sind, dann spielt es eine Rolle wie alt die Kinder sind, wie lange die Eltern zusammen waren, wie sich getrennt haben, wie sich die Eltern nach der Trennung verstehen, ob die Eltern in der gleichen Stadt leben und wie die Kinder charakterlich veranlagt sind. All das kann man aber unmöglich in einem Text berücksichtigen. Ohne darüber eine soziologische oder psychologische Studie anzufertigen. Ich habe mir fest vorgenommen, mit verschiedenen Kinderpsychologen über das Thema zu sprechen und die Interviews darüber zu veröffentlichen.
Bis dahin bleibt mir nichts übrig, als einige vage Gedanken zum Thema zu formulieren und von meinen ganz persönlichen Erfahrungen zu sprechen. Manchmal erscheint es mir so, als gebe es kaum noch Familien, in denen es nicht irgendwelche Trennungsgeschichten gibt. Ich kenne gleich zwei wirklich wunderbare Mütter im persönlichen Umfeld, die vier Kinder von drei Männern haben. Ich habe einen guten Freund, der drei Kinder mit drei Frauen hat. Ich habe einen schwulen Freund, der sich nichts sehnlicher wünscht als ein Kind und sich auf Internetseiten wie „familyship.org“ informiert und hofft, dort sein Kinderglück zu finden. Ich kenne ein schwules Paar, dass ein Pflegekind aufzieht und ich habe einen wunderbaren Freund, der mehrere Jahre mit zwei Müttern aufgewachsen ist. Die Liste von alternativen Familienmodellen in meiner nächsten Umgebung ließe sich beliebig verlängern. Doch laut statistischem Bundesamt trügt der Schein. Noch immer ist die „Normalfamilie“ das zahlenmäßig häufigste Modell in Deutschland.
Meine vierjährige Tochter hat einen anderen Papa als mein Sohn. Vom Vater meiner Tochter bin getrennt, seit sie auf der Welt ist. Sie kennt es nicht anders und trotzdem findet sie es am schönsten, wenn alle beisammen sind. Ihr Papa und ich haben ein gutes Verhältnis. Es gibt keine Eifersüchteleien, keine Vorwürfe und wir sprechen alles immer gemeinsam ab. Wir essen hin und wieder gemeinsam Abendbrot, gehen gemeinsam auf Spielplätze, unternehmen gemeinsam etwas und besitzen gegenseitig die Schlüssel unserer Wohnungen. Und natürlich streiten wir auch regelmäßig.
In den vergangenen vier Jahren gab es die unterschiedlichsten Regelungen zwischen uns: Im ersten Lebensjahr wohnte Papa D. noch mit uns zusammen. Später schlief meine Tochter regelmäßig auch bei ihm und ich freute mich tatsächlich über die freien Abende. Es gab eine Phase, in der Papa D. unsere Tochter dreimal die Woche aus dem Kindergarten abholte und ich nur zweimal, weil ich es mit meinem Beruf nicht anders vereinbaren konnte.
Doch man darf die Rechnung eben nie ohne den Wirt machen: Meine Tochter hängt sehr an mir. Was in diesem Alter vermutlich normal ist. Und um ganz ehrlich zu sein, ich gebe sie nur ungern her. Du verzeihst mir diesen Satz sicher, lieber D. Mittlerweile ist meine Tochter deshalb vorwiegend bei mir. Gerade jetzt, da ihr Brüderchen zur Welt gekommen ist, finde ich es wichtig, dass sie eine Kontinuität erfährt. Ich möchte ihr nicht das Gefühl geben, dass ihr Bruder bei Mama sein kann, sie aber zu Papa muss.
Für Papa D. ist das nicht immer einfach. Er ist hin und wieder traurig darüber, dass unsere Tochter lieber bei Mama ist. Während ich natürlich glücklich darüber bin. Andererseits macht es mich traurig, dass D. traurig ist. Es ist ein wildes Gefühlsknäul, das sich da im Inneren eines Menschen zusammenwurschtelt.
Oft genug gab es ein fürchterlich weinendes Kind, das schrie: „Ich will bei Mama bleiben“, und Mama ließ das Kind trotzdem bei Papa, weil der eben auch was vom Töchterchen haben wollte.
Ob das richtig war? Keine Ahnung. Für mich fühlte es sich nicht richtig an, für Papa D. war es aber wichtig, damit er Zeit mit seiner Tochter haben konnte. Er versicherte mir stets, sobald ich außer Sichtweite war, sei Töchterchen wieder glücklich gewesen. Es ändert nichts daran, dass man als Mama solche Szenen nicht erleben will.
Für mich stellte sich irgendwann die Frage: Geht es um die Rechte und Bedürfnisse von Papa D. oder um die meiner Tochter? Und Papa D. stellte sich die gleiche Frage. Also gingen wir mehr auf ihre Bedürfnisse ein und unsere Tochter bleib häufiger bei mir. Was im Umkehrschluss dazu führt, dass sie noch weniger zu Papa will. – Es ist nicht leicht, so viel ist klar.
Doch mit ihrem zunehmenden Alter spüre ich auch, dass unsere Tochter Dinge besser versteht und sich ihrem Papa mehr und mehr öffnet. Sie zeigt mir, was sie von Papa Neues gelernt hat – beim Hinfallen richtig abrollen zum Beispiel. Sie lässt sich mit einer spektakulären Seitwärtsrolle vom Sofa gleiten und sagt: „Wenn man sich richtig abrollt, dann tut man sich auch nicht weh.“
Nun haben Papa D. und ich seit geraumer Zeit neue Partner. Und glücklicherweise mag ich Papa Ds neue Freundin, B. sehr, und Papa D. mag meinen Partner, S. gern. Klingt alles super, nicht wahr!? Aber wenn deine Tochter das erste Mal „Mama“ zu einer anderen Frau sagt oder „Papa“ zu einem anderen Mann, dann fühlt sich das gar nicht so super an. Letztlich ist es aber gut, dass es so ist, denn auch wenn es mir als Mutter oder Papa D. nicht gefallen sollte, es bedeutet einfach, dass sich unsere Tochter wohlfühlt bei den Stiefeltern.
Man muss extrem verständnis- und rücksichtsvoll sein, wenn man Patchwork lebt. In einer Partnerschaft gibt es einen Erwachsenen, mit dem man über Erziehungsfragen streiten kann, in einer zusammengesetzten Familie wächst die Zahl der Diskussionspartner. Jeder hat was zu sagen und jeder will ernst genommen werden und manchmal will man einfach auf den Tisch hauen und sagen: „So, ich bin die Mutter und so wird es gemacht. Basta!“ Doch meist führt das nur zu gekränkten Reaktionen der anderen.
Ich frage mich, wie Patchwork-Familien funktionieren sollen, wenn man nicht miteinander redet, wenn man sich zerstritten hat oder die neuen Partner sich quer stellen – soll es ja geben hab ich schon gehört.
Auch mit dem so genannten „Wechselmodell“ habe ich meine Probleme. Dabei lebt das Kind nach der Trennung der Eltern eine Woche beim Vater und eine Woche bei der Mutter im Wechsel. Ich persönlich würde nicht so leben wollen. Eine Jenaer Schulleiterin sagte mir einmal während eines Interviews zum Thema Lehrermangel, dass an ihrer Schule einige Kinder in solch einem Wechselmodell zwischen den Eltern pendeln würden. Sie war der Ansicht, dass man das den Kindern anmerke. Ihnen fehle der Fokus, sie seien flatterhaft und unausgeglichen und oft würden Schulsachen fehlen mit der Begründung, die liegen bei Mama oder eben bei Papa. Das ist eine subjektive Wahrnehmung einer Einzelperson und es gibt sicher auch Lehrer, die mir das Gegenteil berichten könnten. Vielleicht, dass diese Wechselmodell-Kinder besonders selbstständig sind. Aber man sucht sich eben gern auch die Meinungen heraus, die der eigenen näher liegen.
Ich wünsche mir für meine Tochter ein festes Zuhause, mit der Option jederzeit zu Papa zu können, wenn sie denn möchte. Ihr merkt, in diesem Satz versteckt sich gleich der Wunsch, dass ihr festes Zuhause bei mir ist. Vielleicht will sie irgendwann mal bei Papa wohnen, dann soll es so sein, bis dahin, ist aber noch Zeit.
Wenn alles gut läuft, werden werden Papa D. und B. irgendwann auch eigene Kinder haben, dann wird unsere Tochter zum „Sandwich-Kind“. Sie pendelt dann zwischen zwei festen, intakten Familien hin und her. Ob sie das als Bereicherung oder Belastung empfinden wird, weiß ich nicht. Aber was ich weiß – und jetzt könnte ich mein Image etwas beschädigen, denn es klingt für meine Verhältnisse vielleicht etwas zu konservativ, aber man sollte an der Familie festhalten, nicht wegwerfen, was man hat, auch wenn die Leidenschaft vielleicht etwas anderes verlangt. Die Frau und der Mann dürfen sich nicht in ihren Rollen als Mama und Papa auflösen, aber für die Kinder lohnt es sich immer zurückzustecken. Das bedeutet nicht, dass man sich durch verkorkste Beziehungen kämpfen soll, sondern nur, dass man die Wegwerfgesellschaft nicht auf die Partnerschaft übertragen sollte.
Mein liebster S., du merkst, du wirst mich nicht mehr so leicht los.
Ich hab zum Thema Liebe, Kinder, Familie, Leidenschaft gleich noch drei wunderbare Film-Empfehlungen:
Und wenn ihr keine Lust mehr habt, über Patchwork nachzudenken, dann könnt ihr es ja einfach spielen.

Das ist ein sehr unterhaltsames Spiel für zwei Personen. Also wenn die Kinder und Stiefkinder im Bett sind, holt den Wein raus, schaut einen Film oder spielt zusammen!
Außerdem habe ich hier eine Rezension von der Pädagogin Elke Pechmann. Sie schreibt über das Buch „Die Patchwork-Lüge“, das die FAZ-Redakteurin Melanie Mühl im Jahr 2011 veröffentlichte. Einen Auszug der Rezension habe ich für euch kopiert:
Hier der Link zum Text
„[…] Im therapeutischen Raum gibt es zum Thema Scheidung, Trennung, Patchwork unterschiedliche Positionen, die die Autorin benennt. Für die eine steht u.a. der dänische Familientherapeut und neue Star in der deutschen Ratgeberszene Jesper Juul. Juul schreibt, dass Kinder, deren Eltern sich trennen und wieder neu liieren, neue Eltern dazu gewinnen würden: „Bonuseltern“ sozusagen. Melanie Mühl weist diesen Gedanken als Euphemismus und Selbstbetrug zurück.
Die Vorstellung, dass bei Patchwork alle gewinnen und es keine Verluste gibt, wird seit vielen Jahren durch die Resultate der Väter- und Scheidungsforschung widerlegt. Mühl beruft sich auf die Arbeiten des Soziologen Gerhard Amendt, der lange Zeit das Institut für Geschlechter- und Generationenforschung der Universität Bremen geleitet hat. In seinen eigenen Publikationen wird sein Ansatz noch deutlicher. Amendt ist aufgrund seiner umfangreichen Untersuchungen der Auffassung, dass die Trennung der Eltern, die Ehescheidung, immer ein „aggressiver Akt“ gegen die Kinder ist, die in einem Dilemma gefangen sind. Um die Eltern nicht zu verletzen, dürfen die Kinder ihre eigene Wut und ihren Zorn gegen sie nicht ausleben, da ihre Aggressionen möglicherweise mit Zurückweisung und Vertrauensverlust beantwortet würden. Die elterliche Scheidung bedeutet für Kinder nicht einen späteren Zugewinn an „Bonuseltern“, sondern den „Verlust der Elterlichkeit“. Elterlichkeit ist der Begriff für die Einheit von Vater und Mutter, die das Kind als ein Zusammen erlebt. Der Verlust dieser elterlichen Zusammengehörigkeit ist mehr als nur der Verlust eines Elternteils.
Ein eigenes Kapitel widmet Melanie Mühl den „Scheidungskindern“. Wie verkraften Kinder die Trennung ihrer Eltern?
Mit den allgemeinen Schlussfolgerungen, die sich an Statistiken orientieren und die wohl manchen Leser zum Widerspruch provozieren, will Mühl nicht behaupten, dass es keine Ausnahmen gäbe. Die Tendenz ihrer Argumentation ist jedoch deutlich. Sie weist auf die Psychologin Judith Wallerstein hin, die seit Jahren zum Thema Scheidungskinder forscht. Wallerstein erhob u.a. umfangreiche Daten aus den Biographien von Scheidungskindern und verglich sie mit Daten von Kindern aus nichtzerbrochenen Familien. Dabei konnte sie nachweisen: Die Rate für Alkoholkonsum bei den unter Vierzehnjährigen aus Scheidungsfamilien beträgt 25% im Vergleich zu 9% bei denen aus intakten Familien. Diese Zahl erhöht sich im Erwachsenenalter auf 85% zu 24%. Scheidungskinder neigen stärker zu Depressionen, Nikotin- und Drogenmissbrauch. Die psychische Instabilität, auf die diese Verhaltensweisen hindeuten, zeigt sich später auch in der Instabilität ihrer Partnerschaften. Scheidungskinder werden fast doppelt so häufig von ihren Ehepartnern geschieden wie Erwachsene aus nicht geschiedenen Elternhäusern.
Auch die Selbstmordrate ist bei Scheidungskindern höher. Mühl zitiert eine Studie aus Kanada (2010), an der mehr als 6.000 Probanden teilnahmen. Sie ergab, „dass Söhne geschiedener Eltern ein dreimal so hohes Selbstmordrisiko haben wie Söhne verheirateter Eltern. Bei den Töchtern lag die Rate doppelt so hoch.“ Warum sind Söhne noch gefährdeter als Töchter? Möglicherweise weil Jungen im Alltag noch mehr Probleme haben, ihre Gefühle zu zeigen und die Abwesenheit des Vaters, der eine Leerstelle im Leben seines Sohnes hinterlässt und als Identifikationsfigur nicht zur Verfügung steht, für sie noch gravierendere Auswirkungen hat.
An den schulischen Leistungen von Scheidungskindern findet man die verstörende Familiensituation eins zu eins abgebildet. Melanie Mühl zitiert eine Lehrerin, die bestätigt, dass die familiäre Situation die Leistungsfähigkeit der Schüler niemals unberührt lasse und im Trennungsfall die Leistungen „mit hundertprozentiger Sicherheit schlechter werden“.
Hinzu kommt, dass Scheidungskinder Mühe haben, ein „stabiles Selbstbewusstsein zu entwickeln“, oft misstrauisch sind und sich später vor Liebesbeziehungen fürchten „weil sie schnell das Gefühl überkommt, sich einem Fremden auszuliefern, der den Schutzwall, den sie mühevoll errichtet haben, beschädigen könnte. Die Familie ist der größte Schutzfaktor für die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen.“
Das Robert Koch-Institut-Berlin bestätigt in der Bella-Studie aus dem Jahr 2006 die Bedeutung einer intakten Familie. Danach verringert sich die Wahrscheinlichkeit für psychische Auffälligkeiten von Kindern stark, wenn das Elternhaus intakt ist.
Den hartnäckig sich haltenden Scheidungsmythos, dass „glückliche Kinder glückliche Eltern haben“ demontiert die Autorin besonders nachdrücklich. Die Behauptung: „Sind die Eltern unglücklich in ihrer Beziehung, ist eine Scheidung folglich im Interesse des Kindeswohls,“ weist sie mit einem Satz, der wohl so noch nie formuliert wurde, zurück: „Tatsächlich ist es Kindern ziemlich egal, wie sehr die Eltern einander lieben und begehren, ob sie womöglich viel lieber neben einem anderen Menschen einschlafen oder sich noch einmal wie ein Teenager verlieben möchten. Ihnen ist es am wichtigsten, dass alles so bleibt, wie es ist, dass beide für sie da sind, gemeinsam.“ Mit dieser prägnanten Aussage beschreibt sie den Wunsch tausender Scheidungskinder.
Wie oft erlebte auch ich als Mutter von vier Kindern genau diese Beschreibung bei Freunden und Klassenkameraden unserer Kinder. Kinder, die diesen Wunsch als Weihnachts- oder einzigen Geburtstagswunsch äußerten oder dies in Aufsätzen unter der Fragestellung: „Was ist dein größter Wunsch?“ zu Papier brachten. Ich erinnere mich noch an die bunten Wunschzettel, die während der Grundschulzeit eines meiner Kinder im Klassenraum reihum aufgehängt waren. Der größte Wunsch einer Schülerin war es, dass sich ihre Eltern wieder versöhnen und wieder zusammen leben würden. Indem Melanie Mühl solchen Kinderwünschen Gehör verschafft, wird sie zum Anwalt der Schwächeren. Die Wünsche nach Glück und gelingendem Leben von Erwachsenen haben in unserer Gesellschaft eine höhere Priorität als die von Kindern. Ihr Buch wird so zu einer konstruktiven Streitschrift und fordert zum Nachdenken über mögliche Ansätze der Bearbeitung vieler Kindheitstraumata heraus.
Dem gegenüber stellt sie den identitätsstabilisierenden Erfahrungsschatz von Nichtscheidungskindern: „Unbewusst verstehen Nichtscheidungskinder, dass die Liebe der Eltern viel mit Arbeit und wenig mit Romantik zu tun hat und vermutlich genau deswegen funktioniert. Sie fragen sich zwar, wie der Vater die Launenhaftigkeit der Mutter erträgt und die Mutter die Sturheit des Vaters, ohne je eine Antwort auf diese Fragen zu erhalten. Das spielt aber auch gar keine Rolle. Sie sehen, dass es die Eltern miteinander aushalten, dass Liebe, dass eine Ehe überhaupt möglich ist.“
Im letzten Teil ihrer Auseinandersetzung mit den Folgen von Trennungen und Scheidungen beschreibt Mühl die Bedeutung des Vaters für das Kind. Gerade auf den Vater müssen Scheidungskinder oft verzichten. Ansatzweise nimmt sie auch auf die radikalfeministische Kritik Bezug, die die Bedeutung des Vaters/Mannes in der Erziehung generell in Frage stellt. Dabei argumentiert sie nicht abstrakt theoretisch, sondern von der pädagogisch-pragmatischen Seite und beschreibt die zu erwartenden Folgen: „Jungen, die ohne Vaterfigur aufwachsen, auch das ist vielfach bewiesen, orientieren sich entweder am Weiblichen und passen sich an oder überkompensieren ihre männliche Identität.“
Die Bedeutung des Vaters für die Töchter ist nicht minder relevant: „Der Vater ist derjenige, der das Kind lehrt, der ihm den Weg in die Welt weist. Der Vater versöhnt die Tochter mit dem Fremden.“[…]“
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